Zur Biographie von Alfred Philippson
Als jüngster Sohn des Rabbiners und Publizisten Ludwig Philippson und dessen zweiter Frau Mathilde (geb. Hirsch)1) wurde Alfred Philippson am 1. Januar 1864 in Bonn geboren. Nach seinem Abitur am Bonner Beethoven-Gymnasium 1882 studierte er in Bonn und Leipzig Geographie, Geologie, Mineralogie und Nationalökonomie. 1886 wurde er durch Ferdinand Freiherr von Richthofen an der Universität Leipzig mit der Dissertation "Studien über Wasserscheiden" promoviert und entschloss sich, im Vertrauen auf gerechte Entscheidungsmechanismen an deutschen Hochschulen, zur Fortsetzung seiner akademischen Laufbahn mit dem Ziel der Habilitation2), da "für einen Juden" kaum Aussichten bestanden, "im preussischen höheren Schuldienst wirklich angestellt zu werden"3). Dem Rat seines Lehrers v. Richthofen folgend, brach er nach einem Ergänzungsstudium der Paläontologie in München 1887 zu selbständigen Erkundungen nach Griechenland auf. Die Fragestellung, mit der er sich dort insbesondere befassen wollte, betraf die Kreideformationen des Peloponnes und deren mögliche Verbindung zu den tertiärzeitlichen Ablagerungen in Nordafrika und Westkleinasien. Den streng naturwissenschaftlichen Ansatz erweiterte er während der Forschungsreise durch den Peloponnes im Sinne des zeitgenössischen länderkundlichen Diskurses auf das Mensch-Natur/Umwelt-Paradigma durch den vertrauten Kontext alltagsweltlicher Erfahrungen.
Mit Selbstbewusstsein und Zuversicht verfolgte Philippson die Erlangung der Venia Legendi für das Fachgebiet der Geographie an einer deutschen Hochschule. Dabei stieß er allerdings auf mancherlei, meist verdeckt begründete antisemitische Widerstände, die erst durch den persönlichen Eingriff des Ministerialdirektors im preußischen Kultusministerium Althoff an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn gebrochen werden konnten.4) Mit der dort vorgelegten Schrift "Der Peloponnes – Versuch einer Landeskunde auf geologischer Grundlage" wurde Philippson 1891 habilitiert. Am 15. Dezember hielt er seine Antrittsvorlesung und wurde 1892 in Bonn als Privatdozent zugelassen. Den Titel "Professor" verlieh man ihm dort aber nicht nach den sonst üblichen 5 Jahren regulärer Lehrtätigkeit, sondern erst nach 8 Jahren, also 1899. In der Zwischenzeit hatte Philippson Nordgriechenland (1893), Konstantinopel, die Ägäischen Inseln (1896) und Russland (1897) bereist. Bis zu seiner Berufung auf die ordentliche Professur für Geographie an die Universität Bern im Jahr 1904 folgten schließlich noch mehrere Forschungsreisen durch Kleinasien.
Philippsons Tätigkeit in Bern, während der er viele Freunde, die sich auch noch in der Zeit der NS-Diktatur für ihn einsetzten, unter den Schweizer Kollegen gewinnen konnte, war von kurzer Dauer. 1906 erhielt er einen Ruf auf den durch Fortgang Brückners nach Wien frei gewordenen Lehrstuhl an der Universität Halle-Wittenberg. Das Hallenser Ordinariat, das er bis zu seiner Berufung nach Bonn im Jahr 1911 inne hatte, übernahm er zum Wintersemester 1906/07. Im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger, der den Ausbildungsschwerpunkt auf die allgemeine Physische Geographie gelegt hatte, war Philippson in Halle, wie später auch in Bonn darum bemüht, die Länderkunde als wissenschaftlich gleichwertigen Zweig auszubauen und weiter zu entwickeln. Er war von dem bildenden Wert der Länderkunde und damit der Geographie, die nach seiner Auffassung allein aus der isolierenden Sicht der Einzelwissenschaften zu einer Gesamtschau führen könne, zeitlebens überzeugt.5)
Nach seiner Ernennung zum Privatdozenten hatte Alfred Philippson 1892 Lina Anna Simoni geheiratet. Diese verstarb jedoch schon 1906 in Bern an den Folgen einer Embolie. Wegen des plötzlichen Todes seiner Frau musste Philippson nach der Übersiedlung nach Halle seinen Haushalt neu organisieren und sich um eine Betreuung seiner Kinder Mathilde (17.1.1893 - 2.2.1922), Ludwig (7.9.1894 - 4.2.1961), Dora (17.11.1896 - 18.8.1980) und Eva (20.8.1899 - 26.12.1962) bemühen. Eine zweite Ehe ging Philippson erst 1919 in Bonn durch die Heirat mit seiner Assistentin und durch ihn promovierten Schülerin Margarete Kirchberger ein. Diese war eine exzellente Analytikerin und Beobachterin und hatte in ihrer Dissertation, die sich mit der Entwicklungsgeschichte der Oberflächenformen in der nordwestlichen Eifel befasste, den Begriff der "Fußfläche" in die wissenschaftliche Literatur eingeführt. Nach ihrer Heirat nahm sie den gesellschaftlichen Konventionen entsprechend u.a. den Platz als wissenschaftliche Zuarbeiterin für den Ehemann ein.6) Bis 1938, als ihnen die Reisepässe entzogen wurden, begleitete sie ihren Mann auf mehreren Studienreisen nach Griechenland (zuletzt 1934), Italien und die Schweiz. Mit ihren hervorragenden Fotographien trug sie nicht unwesentlich zur Dokumentation mediterraner Landschaften bei.
Mit der Übernahme des Ordinariats für Geographie an der Universität Bonn kehrte Philippson 1911 in seine Heimatstadt zurück. Hier konnte er 1929 bei seiner Emeritierung auf eine weithin anerkannte Lehr- und Forschertätigkeit zurückblicken. Mit seinem Lehrer F. v. Richthofen gehörte er zu den Begründern der beziehungswissenschaftlichen Geomorphologie. Sein zwischen 1921 und 1924 erschienenes dreibändiges Lehrbuch "Grundzüge der Allgemeinen Geographie" war für die Entwicklung der Allgemeinen Physischen Geographie wegweisend. Darüber hinaus wurden seine in ihrer Vollständigkeit und Vielseitigkeit einmaligen Arbeiten zur Landeskunde Griechenlands und des westlichen Kleinasien für Historiker und Archäologen Vorbild zu eigenen Untersuchungen über die Entwicklung des Siedlungsbildes im Mediterranraum seit der Antike. In Anerkennung seiner Leistungen verlieh ihm der preußische König am 15.12.1915 auf Antrag der Universität Bonn den "Charakter als Geheimer Regierungsrat".
Durch den systematischen Ausbau von Bibliothek, Kartensammlung und Seminarräumen schuf Philippson in Bonn eines der modernsten geographischen Institute in Deutschland. 1920 berief man ihn zum Vorsitzenden des Fachausschusses Geographie in der neu gegründeten Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Dieses Amt gab er erst 1928, kurz vor seiner Emeritierung ab. Darüber hinaus bestimmte er die Geschicke der deutschen Schul- und Hochschulgeographie nicht zuletzt als Vorsitzender des Zentralausschusses des Deutschen Geographentages zwischen 1921 und 1925. In dieser Eigenschaft regte er 1925 auf dem Breslauer Geographentag die Gründung des Verbandes Deutscher Hochschullehrer der Geographie an. In diesem Amt war er mit unterschiedlichen Funktionen bis 1929 tätig.
Im Mai 1933 verlieh die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin anlässlich der Feier des 100. Geburtstages F. v. Richthofen die Goldene Ferdinand-von-Richthofen-Medaille an die Richthofen-Schüler E. v. Drygalski, Sven Hedin und A. Philippson. Gegen die Ehrung des Letzteren protestierte deren Kollege E. Banse mit rassistisch antisemitischer Begründung – letztlich erfolglos – beim preußischen Kultusministerium. Jedoch waren Philippson und seine Familie zunehmend nationalsozialistischer Repressalien ausgesetzt. Seine Tochter Eva lebte seit einigen Jahren in Amsterdam und wähnte sich dort in Sicherheit. Sein Sohn Ludwig war in Paris verheiratet und arbeitete für die jüdische Auswanderungsorganisation HICEM.7) Im Juli 1941 beschlagnahmte die Bonner Gestapo Philippsons Haus und wies ihm mit seiner Frau und seiner Tochter Dora8) zur besseren Kontrolle eine kleine Wohnung im Haus des jüdischen Rechtsanwaltes Wollstein zu. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Bonner Juden bereits in einem Kloster zwangsinterniert. Zusammen mit diesen wurden die Philippsons am 8. Juni 1942 von Bonn über Köln in das "Altenghetto" Theresienstadt deportiert. Auf Bitten von Kollegen und Verwandten9) Philippsons setzte sich der mit dem NS-Regime sympathisierende schwedische Asienforscher Sven Hedin bei den deutschen Machthabern für seinen früheren Studienkollegen ein. Diese Interventionen führten zu Hafterleichterungen der Familie, sodass diese letztlich überleben konnte. Als "A-Prominent" eingestuft begann Philippson im Oktober 1942 in Theresienstadt mit der Aufzeichnung seiner Lebenserinnerungen "Wie ich zum Geographen wurde".10)
Mehrere Monate nachdem sowjetische Truppen das KZ Theresienstadt befreit hatten, kehrte die Familie Philippson im Juli 1945 nach Bonn zurück und wurde in einer nur notdürftig möblierten kleinen 2½-Zimmer-Wohnung untergebracht. Allen Widrigkeiten trotzend nahm der 81jährige seine Publikationstätigkeit ungebrochen wieder auf. Bereits im September 1946 erschien "Land und See der Griechen". Die Bonner Universität nahm den zurückgekehrten Philippson aufgrund eines Kriegsbeschlusses, der vorschrieb, alle emeritierten Professoren zu reaktivieren, im November 1945 wieder in die Fakultät auf, erneuerte seine Lehrbefugnis und verlieh ihm 1946 die Ehrendoktorwürde. 1947 trug er sich in das "Goldene Buch" der Stadt Bonn ein.11) Ein Jahr später überreichte man ihm die Gustav-Steinmann-Medaille und 1952 erhielt er als einer der ersten Bundesbürger das Große Bundesverdienstkreuz. Alfred Philippson starb am 28. März 1953 im Alter von 89 Jahren – seine Frau wenige Tage nach ihm. Für manche seiner Fachkollegen war er unbequem, jedoch immer um ein gerechtes Urteil bemüht.

Hans Böhm, April 2003
_________________
1) Zu dem Stammbaum der Familien Philippson, Hirsch, Simoni u.a. s. die Datenbak Philippson unter http://www.giub.uni-bonn.de/geschichte/html/Philipps.html. Zurück
2) Vgl. hierzu MEHMEL 1994. Zurück
3) PHILIPPSON 1996; 22000, S. 211. Zurück
4) Vgl. hierzu BÖHM 1991a, S. 207-211 sowie MEHMEL 1998, S. 360-365. Zurück
5) Vgl. BÖHM 1991a, S. 216. Zurück
6) BRANDENBURG u. MEHMEL 1996, S. 158. Zurück
7) Vgl. hierzu den "Fluchtbericht" (AGIB NL Philippson 146). Diese deutsche Fassung ist eine gekürzte Übersetzung eines in französischer Sprache gehaltenen ausführlichen Berichtes im Besitz der Kinder und Enkelkinder Ludwig Philippson. HICEM war eine Organisation, die 1927 durch den Zusammenschluss dreier jüdischer Auswanderungsorganisationen entstand: von HIAS (Hebrew Sheltering and Imigrant Aid Society) in New York, der ICA (Jewish Colonization Association) in Paris und Emigdirekt, die 1921 in Berlin gegründet worden war und 1934 die Arbeit einstellte. HICEM besaß eine Zentrale in Paris, die nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen am 10.6.1940 geschlossen wurde. Eine neue Hauptstelle gab es seit dem 26.6.1940 in Lissabon. Zurück
8) MEHMEL 1996. Zurück
9) Vgl. hierzu MEHMEL 1998, S. 372-377 sowie BÖHM u. MEHMEL 1996; 22000. Zurück
10) PHILIPPSON 1996; 22000. Zurück
11) In dem einleitenden Kommentar der in Theresienstadt aufgezeichneten Lebenserinnerungen wird in diesem Zusammenhang einer bis dato in der Literatur überlieferten Legende gefolgt, Philippson sei bei dieser Gelegenheit zum Ehrenbürger der Stadt Bonn ernannt worden (BÖHM u. MEHMEL 1996; 22000, S. XVI Anm. 15 sowie S. XXXI). In der amtlichen Liste der Ehrenbürger der Stadt Bonn fehlt aber der Name Philippson. Zurück
_________________
Abkürzungen und verwendete Quellen - Vorwort - Inhaltsverzeichnis des Findbuchs - Archivseite